„Wir Grüne können nicht so tun, als wären wir Systemopposition“ - Interview mit Ralf Fücks

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Ralf Fücks: "Es gibt genug Stoff für eine grüne Fortschrittserzählung."

Warum schwächeln die Grünen ausgerechnet im Wahljahr? Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, plädiert im Interview mit der Aachener Zeitung für mehr grünen Zukunftsgeist und eine offensive Auseinandersetzung mit der neuen Rechten.

Achener Zeitung: Herr Fücks, in ihrem Buch „Freiheit verteidigen“ appellieren Sie an das liberale Gewissen der Gesellschaft und warnen vor den Bedrohungen durch den Rechtspopulismus. Nun ist die AfD in Umfragen längst auf dem absteigenden Ast, und man könnte meinen, alles sei halb so schlimm. Wirklich?

Ralf Fücks: Mag sein, dass wir über den Zenit der antiliberalen Welle hinweg sind. Es gab ja auch genug Weckrufe, um sich auf das zu esinnen, was es zu verteidigen gilt: Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, eine unabhängige Presse und kulturelle Vielfalt. Trotzdem glaube ich nicht, dass der Spuk einfach vorbeigehen wird. Zum einen haben wir es mit autoritären Regimen zu tun, die sich als Gegenmodell zur liberalen Demokratie verstehen, vorneweg China, Russland und der Iran. Das greift immer weiter um sich, siehe die jüngsten Entwicklungen in der Türkei oder in Ungarn.

Gleichzeitig verbuchen nationalistische und fremdenfeindliche Parteien fast überall in Europa 20 bis 30 Prozent der Stimmen. Das hat tiefere Ursachen. Wir stecken in einer Modernisierungskrise. Die werden wir nicht mit einer bloßen Verteidigung des Status Quo lösen. Wir brauchen neue Antworten, um die Globalisierung zu gestalten und Sicherheit in Zeiten stürmischer Veränderungen zu gewährleisten.

Die AfD ist nicht nur die Partei der Abgehängten. ihre Anhänger kommen auch aus bürgerlichen Schichten.

Rechtspopulistische bis rechtsradikale Parteien wie der Front National in Frankreich oder die österreichische FPÖ sind die neuen Arbeiterparteien. Sie finden aber auch Anklang im bürgerlichen Milieu. Es sind nicht nur soziale Abstiegsängste, die diese Parteien befeuern. Auch kulturelle Gründe spielen eine Rolle, etwa die Ablehnung der Schwulenehe oder der Affekt gegen die angebliche „Überfremdung“ Europas.

Gibt es so etwas wie einen „rechten Mainstream“, der hier zutage tritt?

Von einer „rechten Mehrheit“ würde ich nicht sprechen. Die Mehrheit ist für Demokratie und Vielfalt. Aber es gibt ein „Coming-out“ von Positionen, die bisher nicht salonfähig waren. Auch wenn wir sie nicht mögen: Es ist besser, wenn solche Meinungen offen artikuliert werden, als wenn sie sich nur unter der Oberfläche ausbreiten. Wir brauchen die offensive Auseinandersetzung mit der neuen Rechten und wir brauchen uns vor diesem Meinungskampf nicht zu scheuen.

Was sind denn die Antworten der Grünen auf diese Herausforderung? Man hatte zuletzt das Gefühl, dass aus einem einst wilden Haufen eine bürgerliche, ja fast langweilige Partei geworden ist, die nicht mehr so laut die Konfrontation sucht.

Erst einmal empfinde ich „bürgerlich“ nicht als Schimpfwort. Wir müssen mit der Tradition des linken Vorbehalts gegenüber der sogenannten bürgerlichen Demokratie brechen. Die historische Alternative lautet nicht „Kapitalismus oder Sozialismus“. Vielmehr verläuft die zentrale Konfliktachse der Moderne zwischen Autoritarismus und Demokratie. Und Autoritarismus kann sich links wie rechts ansiedeln. Aber es stimmt natürlich, dass die Grünen einen Rollenwechsel vollzogen haben.

Wie äußert der sich?

Vor 35 Jahren waren die Grünen tatsächlich eine Partei am Rand des politischen Spektrums, die in Opposition gegen die große Mehrheit stand. Inzwischen sind die meisten grünen Themen ins Zentrum der Gesellschaft vorgedrungen – Atomausstieg und Energiewende, mehr Bürgerbeteiligung, Gleichstellung der Geschlechter und eine liberale Einwanderungspolitik. Weil wir damit so erfolgreich waren, haben wir kein Monopol mehr auf diese Themen.

Wir regieren in elf Bundesländern und können nicht so tun, als wären wir gleichzeitig Systemopposition. Die Grünen sind jetzt in einer Gestaltungsrolle. Diese Rolle müssen wir offensiv wahrnehmen. Gleichzeitig leben die Grünen davon, dass sie kreative Ideen produzieren und eine unkonventionelle Partei bleiben. Diese Seite hat in den letzten Jahren etwas gelitten. Wir müssen wieder mehr nach vorne denken.

Zum Beispiel?

Etwa in der Debatte um ein Bürgerrecht auf Bildung und um die Beteiligung breiter Schichten am Produktivvermögen der Gesellschaft als alternative Antworten auf die Gerechtigkeitsfrage. Das gilt auch für unser Kernthema: die ökologische Umgestaltung der Gesellschaft. Das würde ich viel offensiver als grüne industrielle Revolution buchstabieren, als großen Aufbruch in eine umweltfreundliche Wirtschaft. Da wünsche ich mir mehr Zukunftsgeist bei den Grünen.

Sind die Grünen ängstlich geworden, weil sie bei Themen wie dem Veggie-Day Prügel bezogen haben? Wollen sie nicht mehr anecken?

Die Frage ist ja immer, womit man aneckt. Der Knackpunkt beim Veggie-Day war nicht der Aufruf zu einer gesünderen Ernährung. Das finden viele Leute gut. Sie reagieren aber sehr empfindlich auf den Gestus der Bevormundung. Die Frage ist: Setzt man auf die Einsichtsfähigkeit und Eigeninitiative der Menschen, oder glaubt man, dass man sie zu ihrem Glück zwingen muss?

Die Grünen als Verbotspartei, als Oberlehrer der Nation – das ist der Vorwurf ihrer liberalen konkurrenz.

Das ist ein bisschen billig. Umgekehrt könnte man sagen, dass die FDP null Ambitionen hat, wenn es um Klimawandel und Energiewende geht. Es gibt bei den Grünen unterschiedliche Traditionslinien. Versteht man die ökologische Frage als Gebot zur Einschränkung von Produktion und Konsum, dann landet man schnell beim Ruf nach Verboten. Wenn man sie dagegen in erster Linie als Herausforderung an unseren Erfindungsgeist versteht, dann geht es um eine Politik, die ökologische Innovationen fördert.

Weshalb erscheinen die Grünen gegenwärtig etwas blass?

Die Grünen machen gute Arbeit, auch in NRW. Aber vielleicht mangelt es an visionären Projekten. Dabei gibt es genug Stoff für eine grüne Fortschrittserzählung – ich nenne nur Einwanderung gestalten, Energiewende und umweltfreundliche Mobilität, Bildung für alle oder eine neue Idee von Europa.

Könnte ein solch mitreißendes Projekt auch ein grundlegender Politikwechsel sein? Weg von der großen Koalition, hin zu einer linken Mehrheit? Sprich: Rot-Rot-Grün?

Die Grünen sollten sich im Wahlkampf nicht über Koalitionen definieren, sondern als eigenständige Kraft, die sich von SPD und Union unterscheidet – erst recht von der Linkspartei. Die Linke wackelt in der Europafrage, sie vertritt in der Außen- und Finanzpolitik unverantwortliche Positionen. Da gibt es noch viel Klärungsbedarf. Außerdem ist Rot-Rot-Grün längst nicht die einzige Alternative zur großen Koalition. Ich habe in Bremen vor Jahren die erste „Ampel“ in Deutschland mit aus der Taufe gehoben und fand das schon damals eine interessante Kombination, auch wenn wir am Ende über unsere Differenzen gestolpert sind. Aber das geht auch anders!

Das Interview erschien zuerst am 7. April 2017 in der Aachener Zeitung. Die Fragen stellte Marco Rose.